Landsberg
im 20. Jahrhundert
Bürgervereinigung zur Erforschung der Landsberger Zeitgeschichte

Gedenkstätte | Historische Tatsachen | Umgang mit der Geschichte | Bürgervereinigung | Publikationen | Aktuelles | Kontakt/Impressum | Links


Dokument

Brief vom 30.4.1945, geschrieben von dem amerikanischen Soldaten Alvin Pheterson an seine Familie, Herrn und Frau Harry Pheterson. 417 Joseph Avenue, Rochester, New York

-übersetzt von Helga Deiler-

31.8.1992

30. April 1945

 

Liebe Familie,

 im gestrigen Brief habe ich Euch angekündigt, daß ich Euch einen langen Brief schreiben würde um Euch von dem "speziellen" Konzentrationslager für Juden, das ich gesehen habe, zu berichten.

 Vor einigen Tagen zogen wir in die Stadt am Lechfeld ein. Wir kamen einige Stunden nach den Deutschen an und hatten sie tatsächlich überrascht. Die Stadt selbst war ein gewöhnlicher, kleiner Ort. Sie hatte eine größere Anzahl von Geschäften, Bierlokalen und eine Kirche, wie sie alle Städte haben. Aber die Leute waren anders. Sie wußten irgendetwas und hatten bei einer Sache mitgeholfen, die das Entsetzlichste war, das ich jemals gesehen habe oder je sehen werde.

 Vier oder fünf Kilometer von der Stadt entfernt liegt das Lager Kaufering. Das war ein spezieller Ort für unterdrückte Juden aus allen Nationen - Polen, Ungarn, Italiener, Litauer- und der Spielplatz für die unmenschlichen Bastarde von Nazis. Das Lager selbst war ungefähr 100 Yards breit und 400 bis 500 Yards lang. Die "Wohnungen" für die Insassen waren in den Erdboden gegrabene Löcher, bedeckt mit einem Grassodendach. Wie mir ein Insasse erzählte, wurden ungefähr siebzig Menschen in jeden dieser Räume, die 12 mal 12 Fuß groß waren, gesteckt. Es gab kein Licht oder ein bißchen Wärme und alles hat nach verwesenden Leibern und Fäkalien gestunken. Um das gesamte Lager war ein gewaltiger Stacheldrahtzaun gezogen worden. Eigentlich waren es vier Zäune, da es mehrere Lagen waren; drei senkrechte und eine schräge. Der Zaun selbst war eine fürchterliche Sache. Die Landschaft in der das Lager liegt, ist eine der Schönsten, die ich je gesehen habe. Es hat den Anschein, daß sie zusätzlich zu der Vernichtung der Kameraden auch die Natur selbst mit Zeichen versehen wollten.

 Als ich das Lager erreichte stand alles in Brand. Die Deutschen hatten vor nichts zurückgeschreckt und versucht, alle Anzeichen ihrer Taten zu beseitigen, aber sie wurden überrascht. Wir rückten schneller als erwartet vor. Es waren 4000 männliche Häftlinge im Lager und die Nazis hatten versucht, sie alle umzubringen und zu verbrennen. Dies geschah in der Absicht, alle Spuren der bloßen Existenz zu beseitigen. Aber es gelang ihnen nicht vollständig.

 Auf den Wegen zwischen den Baracken lagen Hunderte von nackten oder fast nackten Leibern. Sie können nicht Männer genannt werden; sie waren nichts als Haut und Knochen, und ich meine das tatsächlich so. Ihre Knochen standen praktisch durch die Haut hervor. Viele von ihnen waren schrecklich verbrannt, wie ein Braten, der für einige Stunden zu lange gebraten worden war oder ein Marshmallow, das zu lange geröstet worden war. Ein großer Haufen Leichen war zusammengetragen worden und zum Verbrennen vorgesehen. Worte können diesen Anblick nicht beschreiben. Im Wörterbuch gibt es keine dafür.

 Einer der Häftlinge erzählte wie er herauskam. Er wurde mit anderen gezwungen, einen gewaltigen Graben auszuheben. Als das fertig war, wurden sie erschossen und zwar so, daß die Leichen in den Graben fielen. Danach wurden sie verbrannt. Er konnte irgendwie auf einen nahegelegenen Vorsprung mit hohen Zaunpfählen kriechen. Die Amerikaner kamen kurz danach an. Einige, die entkamen und die sich in den nahegelegenen Wäldern mit nichts als einer Decke versteckten, halten sich nun in einem kleinen deutschen Genesungsheim auf, wo sie die Ankunft der Militärbehörden erwarten.

 Ich sprach mit einigen dieser Männer und es gibt keine Worte, um genau zu beschreiben, was sie mir von ihren Leiden erzählt haben. Ein junger achtzehnjähriger Häftling, der aussah wie 80, erzählte mir, daß er hundert Jahre brauchen würde, um mir die Ereignisse, die sich an einem Tag innerhalb des Stacheldrahts abspielten, zu schildern und daß das auf jeden Tag von den sechs Jahren, die er hier verbrachte, zuträfe.

 Ihr Essen bestand Tag für Tag aus vier Bechern Wasser und aus einer Scheibe schwarzem, zähen, deutschen "Brot". Ihre Hemden und Hosen waren blau-weiß längsgestreift, wie die Anzüge, die die Kettensträflinge trugen. Jeder hat auf seinem linken Arm eine Nummer eintätowiert. Sie sind alle von den Läusen zerbissen und haben Durchfall. Mehrere haben Tuberkulose. Einer hat seinen Penis amputiert gehabt. Er sagte mir, daß es mehr als 300 wie ihn gäbe.

 Sie machten in ihrer gegenwärtigen Umgebung einen abgestumpften Eindruck. Einer erzählte mir, daß seine Mutter, sein Vater und alle seine Brüder und Schwestern umgebracht worden waren, daß er der einzige sei, der von seiner Familie übrig geblieben war. Als er das dem Hauptmann erzählte, sagte er, daß er nun sein einziger Verwandter sei.

 Wir können wirklich dankbar sein, daß wir Juden in den Vereinigten Staaten in einem Land leben, in dem wir in Ruhe gelassen werden und als menschliche Wesen und als Gleichberechtigte behandelt werden. Wieso kann es so nicht in anderen Ländern sein? Haben wir ein Verbrechen begangen, für welches wir so lange bestraft werden, wie es Juden gibt? Ich bin nicht klug genug, um diese Frage zu beantworten. Alles was ich tun kann, ist darüber erstaunt zu sein und zu fragen.

 Nun, das ist so ziemlich alles was ich darüber sagen kann. Alles gedeiht gut. Ich fühle mich gut und es gibt nichts um sich Sorgen zu machen.

 In Liebe

Dein Sohn und Bruder

Alvin

 

© 2007: Alle Rechte der Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.